Kreative Forschungsmethode - Dialogische Bildung
"Eine erfolgreiche Kommunikation ist vielmehr so, dass jeder versteht, was der andere Partner im Sinn hat" (Smith, 1996, S. 118).
Die Website enthält Beispiele, Berichte und Essays über das dialogische, pädagogisch-psychologische Arbeiten, insbesondere und exemplarisch mit der Erforschung und Förderung des logisch-mathematischen Denkens. Die Beschäftigung mit dem flexiblen Interview bewirkt, dass die Personen lernen, wie die Psychologie und die Pädagogik systemischer, d.h. menschlicher gestaltet und aufgefasst werden können. Die Website lädt Sie ein, diesen Weg zu erkunden und stetig weiterzuentwickeln.
Das flexible Interview besteht aus dem kreativen und kritisch-explorativen Einsatz der Beobachtung, der Befragung (conversation libre), des Experiments und des Tests. Es ist weltweit im Einsatz in der Grundlagenforschung der Kognitionspsychologie, der Entwicklungspsychologie und der Lernforschung (Clement, 2000). "Von Anfang an habe ich das gemacht, was ich seither tue: qualitative Analysen, anstatt Statistiken über richtige und falsche Antworten zu erstellen" (Piaget, zit. nach Bringuier, 1977, S.24; Übersetzung S. Meyer).
Die nonkonformistische, qualitative Methode wurde von Jean Piaget und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Erforschung der Entwicklung des Erkennens und Verstehens entwickelt. Die Ursprünge reichen zurück bis zur "Hebammenkunst" bei Platon und dem klinischen Interview der Psychiatrie. Piaget bezeichnete die Methode "méthode d'exploration critique" (vgl. Inhelder, Sinclair & Bovet, 1974, S.35; Duckworth, 2004). Die kritische Grundeinstellung der Methode gilt auch für die Bezüge zu den Diskursen der kritischen Erkenntnistheorie (vgl. Burbules, 2005). Damit können Idealisierungen der Dialogik erkannt und überwunden werden.
Nach Bachelard (1980, S. 140f.) arbeiten die meisten Philosophen und Erkenntnistheoretiker auf dem Boden der aristotelischen Logik, deren Voraussetzungen folgend die gesamte Geometrie und die gesamte Physik verstanden werden könne. Die modernen Wissenschaften brachten die Dialektik in die Logik, in die Geometrie und in die Physik hinein. Die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Wellenmechanik oder die Diracsche Mechanik entstanden aus einer Kritik und aus Reformen der Postulate der aritsotelischen Logik (vgl. ebd.).
Das FI trägt die Dialektik stetig in die entwicklungspsychologische (und in die pädagogische) Forschung hinein. Dadurch werden auch die Verbindungen zwischen der aristotelischen Logik, der euklidischen Geometrie und der Physik verändert. Das FI ist folglich eine Einladung der Wissenschaft zum neuen Denken und zu neuen Typen der Vorstellungswelt (vgl. ebd., S. 141).
Was leistet die Methode in der Pädagogik? - Mit der Betonung der kritischen Exploration öffnet das flexible Interview (FI) den Unterricht für alle. Es unterstützt die Prozess- und die Handlungsorientierung beim Aufbau von Wissen, von Methodenkompetenzen und der Bildung des Denkens. Es befähigt die Lehrpersonen, die Welterfahrung und die Denkwege der Kinder zu explorieren und in den Unterricht zu integrieren. Die kritische Exploration macht neue Dimensionen der sozialen Beziehungen und der Rollen verständlich. Die Methode hat sich auch in online-Sessions sehr gut bewährt (vgl. Salmons, 2016). Das FI ist ein Motor für die Dialektisierung der Pädagogik.
Das FI fördert das Verstehen und relativiert den Stoffdruck (didaktische Reduktion). Die Professionals orientieren sich mit einem Gedanken von Piaget: "Die Intelligenz ist nicht das, was man weiss, sondern das, was man tut, wenn man nicht weiss."
Die Methode erweist sich bei schweren Lern-, Verhaltens- und Befindlichkeitsstörungen als Türöffner und Starthilfe für kreative Projekte und Förderprogramme. Sie erforscht Erfahrungen - nicht bloss Wissen oder Kompetenzen (vgl. Laing, 1969; Teachman et al., 2018). Die Methode schafft Gelegenheiten, in denen "homologia" erfahrbar wird, d.i. Identität des Diskurses zwischen zwei Personen (vgl. Foucault, 2019). Wirkungsstudien belegen die Erfolge seit mehreren Jahrzenten, so auch beim Konzept der 'cognitive acceleration'. Dieser Ansatz integriert Piaget und Wygotski: pädagogisches Experiment, reflektierende Abstraktion, Ko-Konstruktion, Entwicklung durch Denkschulung.
Entwicklungsprojekte und Aktionsforschungen sowie Kollaborationen trugen und tragen zur Pädagogisierung der Methode der kritischen Exploration bei. Dabei wurde die genetische Erkenntnistheorie verändert, nämlich zur genetischen Erkenntnistheorie der systemischen, integrativen Pädagogik mit den Indikatoren der Entwicklung von Autonomie, Sozialisation und Kompetenz.
Die quantitativen Tests innerhalb der klinischen Diagnostik beruhen per Definition auf additiven, linearen Modellen. Bei den additiven Modellen werden die Testpunkte einzelner Personen zu Gesamtwerten summiert (vgl. Gigerenzer, 1981). Piaget (1977) hat dem qualitativen Ansatz den Vorrang gegeben und er hat ihn revolutioniert. Das flexible Interview war und ist die Methode dafür. Die genetische Erkenntnistheorie wurde auch auf den Erfahrungen mit dieser Methode entwickelt. - Allerdings ist inklusive Pädagogik auf systemische Diagnostik angewiesen (vgl. Baumann & Epple, 2013; siehe Seite "ABC des flexiblen Interviews"). Einzelfälle losgelöst von Situationen zu untersuchen ist reduktionistisch und kontraproduktiv. Inklusive Pädagogik als Gestalt ist mehr als die Summe von Einzelteilen.
Das Methodenkonzept von Cuomo (2007) und die Handmetapher zu den Dimensionen des Unterrichtens (vgl. "Teil II: Beziehungshaltige Mathematik", Meyer, 2012) umschreiben inklusive Modelle. Die Arbeit am "systemic turn" der Methode der kritischen Exploration fortzuführen, gehört zu den stetigen Forschungsaufgaben (vgl. Mast & Ginsburg, 2009; Nind, 2016; WHO & Coltart, 2017).
Nach Korzybski (2013) sollte die nichtaristotelische Erziehung den Verstand des Kindes als offenen Organismus vollenden. Die Schulungen in der Methode des flexiblen Interviews an der HfH und anderswo (vgl. Mast & Ginsburg, 2009) haben bei den (erziehenden) Forschenden bewirkt, dass sich ihr Charakter zu wandeln begann. Ohne tätige und sich wandelnde Charaktere können Forschende und Erziehende die Erfahrung von Öffnung gar nicht vermitteln (vgl. Bachelard, 1980, S. 147).
Damit es dazu kommt, muss der Forschungs- und der Erziehungsprozess nach Danilo Dolci (2011) reziprok (wechselseitig) sein. Theorien, Fragestellungen, Methoden und Erörterungen von Ergebnissen beleuchten die Wechselwirkungen im Wir von Gemeinschaften, welche sich mit einer Forschung und / oder mit Entwicklung befassen. Wer das flexible Interview weiterentwickeln will, entdeckt den Übergang vom einseitigen Befragen und Testen hin zum viel- und wechselseitigen Fragen, was als reziproke Mäeutik bezeichnet wird. Das heisst, dass nicht nur die Fragen der erwachsenen Erziehenden / Forschenden von Bedeutung sind, sondern auch die Fragen der Kinder, der Jugendlichen und der Studierenden. Der / die Erziehende und die Forschenden werden fähig, die Fragen der Schüler:innen und Student:innen zu hören, sie beginnen, sich daran zu entwickeln. Für die Genfer Schule und auch für Dolci (2011) ist klar, dass sich Bildung und Kreativität nicht übermitteln lassen. Sie realisieren sich durch dialektische Kommunikation und Bewusstseinsbildung.
Ich danke Gianfranco Arrigo, Nicola Cuomo, Jean-Jacques Ducret, Herbert P. Ginsburg, Alexander Grob, Priska Hagmann, Alice Imola, Constance Kamii, Michel Perraudeau, Anne-Nelly Perret-Clermont, Leslie Smith, Sarah Seleznyov, Stuart Twiss, Erich Ch. Wittmann, Gerald Wittmann sowie den Schulischen Heilpädagoginnen und den Schulpsychologen für die Anregungen und die Unterstützung. Möge die Zusammenarbeit dazu beitragen, dass das flexible Interview als Kulturgut Psychologie und Pädagogik bereichert. Ebenso danke ich der Fondation Jean Piaget für die Fotografien.
Die Arbeitstexte der Website als Reader (69 S.), 2020, z.Zt. in Überarbeitung
Stefan L. Meyer, Senior Lecturer, em. HfH |
01.11.2024 |