Das flexible Interview und die Forschung
"Stets haben wir es mit derselben methodologischen Definition zu tun: Sage mir, wie man dich sucht, und ich sage dir, was du bist" (Bachelard, 1988, S.138).
Wie entwickeln sich das Erkennen und das Verstehen bei Kindern und Jugendlichen? Bis wie weit reichen das intellektuelle und das moralische Bewusstsein? Das waren Leitfragen von Piagets Intelligenzforschung. Damit waren auch die Inhalte, die Strukturen und die Funktionen intelligenten Verhaltens gemeint (siehe Ginsburg und Opper, 2004). Diese offene Definition von Intelligenz ähnelt in gewisser Weise dem mehrdimensionalen Ansatz von Gardner (2005). Was hier beschäftigt, ist weniger die Vielfalt der Definitionen von Intelligenz oder der populärwissenschaftliche Abschied vom IQ. Alle Theorien der Intelligenz basieren auf Erkenntnistheorie. Diese sucht Antworten auf die Fragen, was ist intelligentes Verhalten eigentlich und mit welchen Fragen und Vermutungen begegne ich diesem Erkenntnisobjekt? Die empirische Auseinandersetzung mit intelligentem Verhalten wird mit Hilfe von Methoden organisiert und geregelt. Und wählte Piaget und seine Mitarbeiter*innen einen Weg, der verglichen werden kann mit der Entwicklung der Psychoanalyse. In Anlehnung an Bachelard (1988) kann von einer freien / befreienden Suche des Erkenntnisobjekts ‘Intelligenzentwicklung’ gesprochen werden. Die Methode besteht wie erwähnt aus der flexiblen Verwendung der Beobachtung, der Befragung, des Experiments und des Tests. Ginsburg und Opper (2004, S. 150f.) streichen vier Bausteine der Methode heraus:
- Die Fragen des Versuchsleiters beziehen sich auf konkrete und vorliegende Gegenstände oder Ereignisse.
- Das Kind kann die Antworten durch Manipulation der Gegenstände zum Ausdruck bringen.
- Der Versuchsleiter kann Standpunkte des Kindes mit Gegenargumenten oder Gegenvorschlägen in Frage stellen.
- Die Versuchsleiterin kann die Fragen fortlaufend verändern, so wie es die Situation erfordert.
Die Methode will bedeutsame Erfahrungen ermöglichen, auf denen man in der psychologischen und der pädagogischen Arbeit aufbauen kann. Die Methode lässt sich einfach in Berufsalltage integrieren, v.a. im Sinn der Aktionsforschung. Sie fördert die Prozessorientierung in der Pädagogik und leistet gleichzeitig wesentliche Beiträge für die qualitative Sozialforschung und die qualitative Entwicklungspsychologie (Mey, 2000; Kleining & Witt, 2001; Diriwächter & Valsiner, 2006).
"In general, any fundamentally new approach to a scientific problem inevitably leads to new methods of investigation and analysis. The invention of new methods that are adequate to the new ways in which problems are posed requires far more than a simple modification of previously accepted methods." (Vygotsky, zit. in Cole et al., 2019, S.58).
Perraudeau (2002) hat den Einsatz der Methode in pädagogischen Settings systematisch dargestellt und weiter entwickelt. Perret-Clermont & Nicolet (2001) sowie Perret-Clermont, Nicolet & Schubauer-Leoni (2000) haben den Einfluss der Interaktion auf die Entwicklung der Intelligenz eingehend erforscht. Diese Themen werden im Abschnitt FI & unterrichten erörtert.
Vygotsky (zit. in Cole et al., 2019, S.58) gibt einen entscheidenden Hinweis: "Jede grundlegend neue Herangehensweise an ein wissenschaftliches Problem führt im Allgemeinen unweigerlich zu neuen Untersuchungs- und Analysemethoden. Neue Methoden zu erfinden, welche der neuen Art und Weise, Probleme zu stellen, angemessen sind, erfordert weit mehr als simple Modifikation von zuvor akzeptierten Methoden." - Inklusive Pädagogik ist eine neue Aufgabe und ein neue Herausforderung an die Methoden der Wissenschaften.
Mit Blick auf die klassischen und die neueren Forschungsbeiträge wird der Schluss gezogen, dass das flexible Interview eine Methode ist, mit der Entwicklungen auch in inklusiven pädagogischen Situationen erforscht werden können. Das kritische, operative und systemische Paradigma (vgl. Bronfenbrenner, 1993) ist die epistemologische Grundlage. Die Aktionsforschung stellt einen passenden strategischen Rahmen zur Verfügung (vgl. Bradbury, 2023; Altrichter et al., 2018; Cuomo, 1989; The Action Research Podcast, 2020). Das flexible Interview in neuen Methoden weiter zu erfinden, ist die Maxime, welche Piaget und Wygotski empfohlen haben (vgl. Berthoud-Popandropoulou & Kilcher, 1996). In Anlehnung an Smith (1996; 2009) kann gelungene Kommunikation (über Inklusion) definiert werden als gegenseitiges Verständnis dessen, was der Andere im Sinn hat.
Wie kann die Forschung mit dem flexiblen Interview dargestellt werden? Das Fallportrait (Portraiture, vgl. Lawrence & Hoffmann, 2002) kombiniert die systematische, empirische Beschreibung mit ästhetischen Belegen, mit Mischung von Kunst und Wissenschaft, mit menschlicher Sensibilität und wissenschaftlicher Genauigkeit. "Die Portraits entstehen im Dialog zwischen den Portraitisten und dem Subjekt" (ebd., S. 3; vgl. auch die Methode "sharing the video"(vgl. Morgan, 2007; Nind et al., 2016, S.159-208). Beim flexiblen Interview gehört das ko-konstruktive Arbeiten (d.i. das operative Prinzip) dazu. Sara Lawrence-Lightfoot und Jessica Hoffmann Davis stellen Fallstudien in der Pädagogik in ein neues Licht. Das steht in der Tradition von Diderot, Sigmund Freud, John Dewey, Inhelder, Sinclair & Bovet (1974), Lurija, Oliver Sacks und Nicola Cuomo (2007). - "Kunst und Denken sind Mittel, um Menschen von der Tyrannei der Kultur zu befreien", zitieren Lawrence & Hoffmann (2002, S. 3) Lionel Trilling. Das Fallportrait ist ein Eckstein der transformativen Pädagogik und der Inklusion.
In diesem Abschnitt werden flexible Interviews zu spezifischen Themen der Denkentwicklung in der Mathematik vorgestellt. Eine Auswahl an flexiblen Interviews steht frei zur Verfügung. Dann wird auf Forschungsarbeiten verwiesen, in denen das flexible Interview im Rahmen von Aktionsforschungen Verwendung fand.