Das flexible Interview und das Unterrichten
Jean Piaget forderte Menschen, die in irgendeinem Bereich kreativ wirken möchten, auf: "...ab und zu ein Kind zu bleiben, mit der Kreativität und der Erfindung, die Kinder charakterisieren, bevor sie von der Erwachsenengesellschaft deformiert werden." (Vortrag an der John Hopkins University, Baltimore, 19.10.1972)
Flexible Interviews kommen in der dialogischen Förderdiagnostik und in der Prozessbegleitung während des Unterrichts zum Einsatz (siehe Hengartner, 1999; Mast & Ginsburg, 2010; siehe Videos aus Unterrichtsforschungen von Constance Kamii, 2000). Skepsis ist angebracht gegenüber Projekten, in denen Entwicklungspsychologie derart mit Fachdidaktik verknüpft wird, dass ein starres und technokratisch-niveauorientiertes Programm entsteht (Freudenthal, 1977, 1991; Fuson et al., 2010; Clement & Sarama, 2009). In Anlehnung an Wygotski (1986) steht nicht das aktuelle Niveau im Zentrum des Interesses, sondern die maximal möglichen Handlungs- und Denkoperationen in der Ko-Konstruktion, welche als Zone der nächsten Entwicklung bezeichnet werden. - Die Methode ist etwas Ähnliches wie die Sprachspiele bei Wittgenstein (1980). Sie konkretisiert ein Mittel. Bloch (1985, S. 241) präzisiert: "Ein Mittel, dem Warendenken vorläufig wenigstens zu begegnen, ist das genetische, also das Lernen und Lehren, das den Stoff als entstehend zeigt und so entwickelt." Die genetisch-systemische Entwicklungspsychologie unterstützt die systemische didaktische Analyse, auf die jeder Unterricht angewiesen bleibt (Klafki, 1996; Gruschka, 2002; Wittmann, 2002).
In Anlehnung an Masschelein & Wimmer (1996) gilt, dass Pädagogik durch das flexible Interview theoretisch und pragmatisch genauso dekonstruiert wird, wie die Psychologie im Arbeitsfeld und den Zwischenräumen der pädagogischen Praxis dekonstruiert werden muss.
Lernen und Entwicklung - extreme Pole (Tanner, 1978, zitiert nach Adey & Shayer, 1994, S.5)
Die Abbildung zeigt, dass das flexible Interview zu einem breiten Band von Interventionsmöglichkeiten passt. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Bedeutungen der eigentlichen Bildungsprozesse markante Unterschiede aufweisen. Sie reichen vom Lernen als konditionierter Manipulation bis hin zur ko-konstruktiven Entwicklung autonomer Subjekte.
Bronfenbrenner (1977, S. 513) kritisierte die Beschränkung der Entwicklungsforschung: "This limitation derives from the fact that many of these experiments involve situations that are unfamiliar, artificial, and short-lived and that call for unusual behaviors that are difficult to generalize to other settings. From this perspective, it can be said that much of contemporary developmental psychology is the science of the strange behavior of children in strange situations with strange adults for the briefest possible periods of time.
Partially in reaction to such shortcomings, other workers have stressed the need for social relevance in research, but often with indifference to or open rejection of rigor. In its more extreme manifestations, this trend has taken the form of excluding the scientists themselves from the research process."
In Praxisprojekten werden flexible Interviews als Forschungsmethoden eingesetzt. Christoph Linsi, Schulischer Heilpädagoge, kam in seinem Unterrichtsprojekt zu folgendem Schluss: "Eine gute Ergänzung dazu (gemeint sind standardisierte Tests, Anm. d.Verf.) sind die flexiblen Interviews, die weit vertieftere Informationen über den Stand der mathematischen Denkprozesse der Lernenden liefern als die obengenannten Tests" (2009, S. 60). Diese Aussage passt zum Referenzschema des "teaching experiment" (vgl. Steffe, Thompson & von Glasersfeld, 2000). Dabei steht nicht die Leistung im Zentrum des Interesses, sondern die dialektische Entwicklung mathematischer oder anderer Modelle bei den Lernenden. Nach den Autoren ist Mathematik ein lebendiges Thema (vgl. ebd., S. 269), welches die Aufgabendidaktik, also das tote Lernen, transformieren kann (siehe Abbildung "Erkenntnistheoretischer Zirkel der transformativen Pädagogik und das flexible Interview").
Grundsätzlich kann jeder Gegenstand der Bildung mit der Methode des flexiblen Interviews untersucht werden. Sie ist ein ausgezeichnetes Instrument, um Lernvoraussetzungen und didaktische Analysen in Echtzeit herzustellen. Gleichzeitig lernen die Lehrer-Forscher, Hypothesen explorativ und experimentell "on the fly" (vgl. Ackermann, 1995) zu untersuchen. Die Methode untersucht auch Meinungen, Irrtümer, kognitive und soziale Konflikte sowie Vorurteile bei den Lernenden und den Lehrenden im Sinn der sokratischen Hebammenkunst (Koch, 2012).
Die Abbildung illustriert, wie mit dem flexiblen Interview in Gruppen das Beobachten, Befragen, Experimentieren und Testen in Wechselwirkung. Es ist die Wechselwirkung, welche der Flexibilität und der Adaptivität zugrunde liegt. Die Methode wird sozialisiert (vgl. Piaget, 1966; Denis-Prinzhorn, Grize, 1966; Perret-Clermont & Nicolet, 2001; Perraudeau, 2002).
Duckworth (2004, S. 82-83; Übersetzung S. Meyer) charakterisiert die Methode der kritischen Exploration in Schulklassen mit zwei Aspekten. "Es muss erstens ein gutes Projekt realisiert werden, in welchem die Schülerinnen und Schüler arbeiten können. Zweitens geht es darum, das Kind zu ermutigen, damit es über seine Ideen spricht: sorgen Sie für eine angenehme Situation; heissen Sie alle Antworten willkommmen; verhalten Sie sich neutral gegenüber den Inhalten der Antworten der Kinder; ermutigen Sie es gleichzeitig zum Nachdenken und zum Sprechen; verfolgen Sie die Gedankengänge des Kindes über seine ersten Ideen über das Problem hinaus; ermutigen Sie das Kind dazu, dass es seine Gedanken ernst nimmt."
Die Projektmethode von Frey (2010) fördert die Entwicklung der dialogisch-kooperativen Prozesse im Unterricht mittel- und langfristig. Didaktische Arrangements wie der Klassenrat, mathematische Kolloquien, Schreibkonferenzen, Experimente in den Naturwissenschaften, ein Sitzkreis oder einfach ein Znünikreis bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, um die Kompetenzen, die Sozialisation und die Autonomie zu fördern. Das flexible Interview ist in diesem Fall eine Methode der Prozessbegleitung.
Der Unterricht wird bedeutsamer und tragfähiger, wenn Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und Schulische Heilpädagogen die Regelklassenlehrpersonen bei Bedarf unterstützen (vgl. Mast & Ginsburg, 2010). Das flexible Interview wird zum natürlichen Bestandteil des Unterrichts, es stärkt die Triangulierung zwischen den Lehrenden, den Lernenden und der Lernaufgabe, es fördert das Teamteaching und die Prozessbegleitung. Flexible Interviews sollen den Unterricht autonomer, 'leichter' und gleichzeitig kohärenter machen (Piaget, 1999; Kamii & DeFries, 1993).
Die Abbildung skizziert das Schema, in welchem die Handlungsaspekte der mathematischen Bildung (operieren und benennen; mathematisieren und darstellen; erforschen und argumentieren; siehe Lehrplan 21, Schweiz) mit den methodischen Dimensionen des flexiblen Interviews verknüpft werden.
Auf der andern Seite ist das flexible Interview eine kritische Methode (vgl. Ducret, 2004; Smith, 1999), weil sie das Verhalten der Lehrenden und der Prozessbegleiter im Hinblick auf die zentralen Absichten der jeweiligen Interviews sowie der jeweiligen Situation in Frage stellt und der Reflexion über Qualität zugänglich macht.
Gesetzt den Fall, jemand beginne mit flexiblen Interviews, d.h. der Methode der kritischen Exploration zu Hause, in der Schule, in der Forschung oder der Schulpsychologie zu experimentieren und sie und er würden gleichzeitig "Awakenings" von Oliver Sacks lesen, so würde bestimmt ein lebenslanger kathartischer Prozess einsetzen. Läuterung und Kompetenzen könnten in Liebe zum Verstehen gedeihen.
In den letzten zwei Jahrzehnten der Aktionsforschung und der Lehre ist es gelungen, die Methode der kritischen Exploration in eine operative und kritische Beziehung zur Pädagogik zu setzen. Es entstand ein interdisziplinäres Referenzschema zum erkenntnistheoretischern Zirkel der transformativen Pädagogik und dem flexiblen Interview: befreiendes Erkennen und befreiende, transformative Pädagogik bilden ein System mit fördernden Wechselwirkungen (siehe Abbildung; vgl. Bronfenbrenner, 1977; Freire, 1998; Burbules, 2005; Wink, 2011). Das Referenzschema ist kritisch: der Eurozentrismus, der Rassismus und die Fremdenfeinlichkeit werden aus der Perspektive der "epistemología del sur" (vgl. Lander, 2000; Diaz Barrios, 2019; Becker, 2017, 2019), sowie der Menschenrechte, der Kinderrechte und der Rechte der Menschen mit Behinderung hinterfragt. Das lässt sich im Motto zusammenfassen: Ohne Befreiung keine Inklusion.