Erfahrungen und Kenntnisse vertiefen
Seit den Anfängen um das Jahr 1926 wurde die Methode kritisch hinterfragt und differenziert (vgl. Piaget, 1999). Nach Bliss (2010) war der Forschungsalltag in Genf wie folgt organisiert. Die Forscherinnen und Forscher (auch Studierende vom ersten Semester an) besuchten jeden Nachmittag! von 13.30-15.30 Uhr Schulen, um Kinder zu interviewen und mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Der Donnerstagnachmittag war davon ausgenommen. Dieser direkte Zugang zum Testen innerhalb der Schule und die fortlaufende Überprüfung sowie Verfeinerung der Forschung wurden ergänzt durch den Austausch an der Universität. Piaget und Inhelder trafen alle Forschenden immer montags von acht bis neun Uhr. Dort wurden die Forschungserfahrungen gestaffelt ausgewertet. Danach wurden Forschungsprojekte besprochen. Das flexible Interview wird weltweit in der Grundlagenforschung der Kognitionspsychologie, in der Erkenntnistheorie und der Lernforschung verwendet.
Drei Verwendungszwecke können skizziert werden. Der erste nimmt das flexible Interview als Forschungsmethode im Bereich der genetischen Erkenntnistheorie (siehe Exkurs). Der zweite bedient sich des flexiblen Interviews in der dynamischen und systemischen Diagnostik. Der dritte setzt das flexible Interview in pädagogischen Situationen ein. Dabei werden die fachlichen Kompetenzen der Beteiligten nachhaltig, dialogisch, demokratisch und niveaubewusst differenziert. Lesen Sie dazu eine eindrückliche Umschreibung von Bärbel Inhelder (1963, S. 262), Übersetzung d. Verf. siehe Link.
La méthode clinique exige évidemment une pratique subtile et un ensemble de précautions. II faut éviter autant le danger de suggérer à l'enfant une direction de pensée qui n’est pas la sienne, que celui d'une interprétation naïve qui consisterait à attribuer une valeur totale et égale à tous ses propos. Procéder cliniquement signifie se débarrasser de toute attitude réaliste et interpréter les données en tant que signes relatifs : c'est-à-dire savoir organiser une expérience, poser des problèmes, conduire la conversation de façon à trancher entre plusieurs hypothèses, chercher à les contrôler tout en observant les faits qui peuvent dépasser ou contredire les cadres préconçus; et finalement rendre l'enfant actif en s'adaptant à chaque cas particulier sans perdre de vue les normes générales, suivre les sinuosités de sa pensée tout en la dirigeant vers les points cruciaux. La technique de la conversation clinique ne s'apprend pas du jour au lendemain; elle exige une longue préparation. C'est là peut-être l'obstacle principal à l'emploi de nos épreuves de diagnostic opératoire.
Inhelder, Sinclair, Bovet (1974, S.35) präzisierten die Umschreibung: „La méthode clinique – plus significativement appelée „méthode d’exploration critique“ (…).“ Methode der kritischen Exploration.
Ginsburg (1997) beschreibt die klinische Methode (d.i. das flexible Interview) ausführlich als "a powerful technique", um Einsicht in das Denken der Kinder zu gewinnen. Das Buch trägt den Titel "Entering the Child's Mind". - Das Verb "to enter" ist sehr bedeutungsreich, und es stellt sich die Frage, welche Bedeutungen zum Tragen kommen, wenn ein flexibles Interview stattfindet. Während der Auseinandersetzung mit dem Tierfotografen, Vincent Munier (vgl. Hiroz & Aymon, 2021) und in der Beschäftigung mit der systemischen Spielpädagogik (vgl. Heimlich, 2015) und dem Mathematisieren während des Monza-Projekts, ist mir bewusst geworden, dass die Arbeit mit der Methode der kritischen Exploration schön und erschreckend sein kann. Schön ist sie, wenn den forschenden Erwachsenen bewusst ist, dass sie in die Sphäre der Kinder eintreten und dass sie die Rechte der Kinder achten, ähnlich der Beobachtungskunst von Vincent Munier. Die Wirkung der Methode ist erschreckend, wenn "Entering the Child's Mind" zwar trickreich, aber eigentlich autoritär, unempathisch und nicht nachhaltig ist. - Ginsburg (1997, S. 229) will unabhängigen Denkern begegnen. Wie dieses Ziel erreicht wird, kann mit Videoanalysen untersucht werden.
Sedova (2017) erkannte in einer Fallstudie über einen Fortbildungsworkshop, dass der Übergang zum dialogischen Unterrichten ein gradueller, nicht-linearer Prozess ist. Sie beobachtete Phasen der Akzeleration und der Regressionen. Reflektive Interviews spielten in den Veränderungsprozessen eine wichtige Rolle und sie machten möglich, dass neue pädagogische Werkzeuge erworben werden konnten. - Das flexible Interview erwies sich bereits in der Studie von Mast (2011) als sehr dynamischer Entwicklungsfaktor im Zusammenhang mit der Lesson-Study.
Bianca Werfeli, SHP, führte 2017 mit einer Schülerin ein flexibles Interview durch. Später untersuchten sie die Erfahrung mit der Methode "sharing the video"(vgl. Morgan, 2007; Nind et al., 2016, S.159-208). Die Fallstudie dokumentiert, wie das FI methodisch erweitert und systemisch pädagogisiert werden kann.
Der Austausch während Experimenten mit dem FI macht wichtige Differenzierungen sichtbar (vgl. Saxer und Meyer, 2020: Austausch_Methode_FI_2020).
Der systemische und demokratische Vorbehalt. Vygotsky (zit. nach Hakkarainen & Bredikyte, 2008, S. 4) unterschied im Zusammenhang mit der Zone der nächsten Entwicklung zwei Formen der Rationalität: die logisch-analytische und die narrative. Hakkarainen & Bredikyte, (2008) stellen fest, dass in der westlichen Tradition beim Scaffolding (differenzierte Lernprozessbegleitung) vor allem das Lösen von kognitiven Problemen durch Individuen thematisiert werde. Dabei habe Vygostky darauf hingewiesen, dass Lernentwicklung auch im Spiel stattfinde und dass die sozio-kulturellen Faktoren bedeutsamere Spuren hinterlassen. Diese würden auch eine psychologische Wirkung erzeugen, welche darin besteht, dass das Kind in ausserschulischen Situationen nicht nur den rationalen Lösungsweg erinnere, sondern eine Szene mit Peers, mit Lehrperson, mit Aufgaben, Lösungswegen und einem sozialen, empathischen und geistreichen Klima. - Das bedeutet für die Vertiefung des flexiblen Interviews, dass die Erwachsenen kohärent und rigoros mit der narrativen Rationalität arbeiten lernen. Weiter sollten die Aufgaben und Probleme aus der Lebenswirklichkeit und den Spielen der Kinder ausgewählt werden. Das Scaffolding und das flexible Interview würden als kreatives Mitgestalten und Mitspielen mit Blick auf die Zone der nächsten Entwicklung erscheinen. Danilo Dolci (2016) umschreibt das in einem Gedicht.
"La maieutica è buona se in un gruppo
ognuno è levatrice di ciascuno." (Danilo Dolci, 2016, S. 251: poema umano, proverbi improvvisati)
«Mäeutik ist gut, wenn in Gruppen
Alle Hebamme aller sind.» (Übers. d.d. Verf.)
Reziprokes Forschen und reziprokes Unterrichten überwinden die Paradoxien von pseudosystemischen Ansätzen. Das "improvisierte Sprichwort" von Danilo Dolci ( 2016, S. 251) tönt es an: «Mäeutik ist gut, wenn in Gruppen / Alle Hebamme aller sind.» Das wird möglich, wenn die Fachpersonen eine (Gruppen-) Kultur aufrecht erhalten, in welcher die notwendigen manifesten Programme offen bleiben für die latenten Programme (vgl. Pichon-Rivière, 2003; Cuomo, 2007). Es wird möglich, wenn die Methode des flexiblen Interviews die Partizipation und die Partizipationsrechte gezielt und bewusst ausbaut (vgl. Hotz und Weber Khan, 2021). Die Forschung bekäme nicht nur Daten über die Kognition, sondern auch Daten über die Partizipation, kurz, über den demokratischen Forschungs- und Bildungsprozess. Dadurch wäre der dritte Verwendungszweck des flexiblen Interviews eingelöst. Die Schule wird ein demokratisches und funktionales System (vgl. Pichon-Rivière, 2003; Cuomo, 2007; Resnick et al., 2015).
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